Das Jahr 2015 wird wahrlich nicht als Grand Cru in die Geschichte der Europäischen Union eingehen. Wirtschafts- und Finanzkrise, Staatshaushaltskrise und die daraus resultierende Sozialkrise haben Europa und seine Bürger gespaltet. Der beschämende Umgang einzelner Politiker und vor allem einzelner Medien mit Griechenland und dessen Schuldenberg haben uns bis in den Sommer dieses Jahres in Atem gehalten. Die schlussendlich mit Griechenland getroffenen Vereinbarungen sind jedoch nur ein geringer Erfolg: zwar wurde ein folgenschwerer Austritt Griechenlands aus der Eurogruppe vermieden, allerdings werden die hohen Schulden in Athen mit neuen Krediten getilgt, sodass wir uns in absehbarer Zeit erneut über das griechische Haushaltsdefizit und vielleicht noch des einen oder anderen Mitglieds der Eurogruppe streiten werden. Es wurde Zeit gekauft, definitive, langfristige Lösungen allerdings, wurden keine erzielt.
Ohne Verschnaufpause rutschte die Union in ihre nächste Krise: die seit Sommer anhaltende Flüchtlingswelle und die Unfähigkeit der EU-Mitgliedsstaaten, zu einer solidarischen Lösung zu finden, haben uns aufgezeigt, worunter der Patient Europa leidet. Wie es Jean Asselborn kürzlich treffend bemerkte, haben viele Staats- und Regierungschefs vergessen, dass das Projekt Europa nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft ist. Die Kopenhagener Kriterien, die jeder Staat vor seinem EU-Beitritt erfüllen muss, halten fest: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Einzelne Mitgliedsstaaten jedoch wie Ungarn oder jetzt auch Polen scheinen diese, bei ihrem Beitritt feierlich bekundeten Versprechen zu vergessen oder zu ignorieren.
Daran sind wir selbst Schuld.
Laut Lissabonner Vertrag sollten eigentlich die EU-Kommission und der Europäische Rat (der Staats- und Regierungschefs) gemeinsam den Takt in Europa angeben. Doch seit der äußerst schwachen Barroso-Kommission haben wir zugelassen, dass die Staats- und Regierungschefs die Zügel fest in der Hand halten und sagen wo’s lang geht. Dies hat katastrophale Folgen, denn die Staats- und Regierungschefs sind de facto keine europäischen Politiker. Sie vertreten in erster Linie die Interessen ihres eigenen Landes, nicht das übergeordnete Interesse der Union. So wird seit ein paar Jahren auf den Treffen in Brüssel oder sonst wo vor allem Innenpolitik gemacht, anstatt europäische Politik, die das Gemeinwohl aller EU-Staaten und EU-Bürger ins Auge fasst. Ein weiterer Beleg für die Machtübernahme der Staats- und Regierungschefs in Brüssel ist die Ernennung des farblosen, einflusslosen Rats-Präsidenten Donald Tusk. Mit ihm haben Frau Merkel, Herr Cameron und auch Herr Orbàn leichtes Spiel.
Die Konsequenz hieraus sind unzählige Treffen der Regierungsoberen, Streitigkeiten hinter und vor den Kulissen. Vermisst wird allgemein die unabdingbare Fähigkeit zu fairen, tragbaren Kompromissen in der EU. Somit rücken nicht nur die EU-Institutionen in ein schlechtes Licht, sondern die ganze Europäische Union. Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten, der EU-Kritiker und EU-Gegner. Unter ihrem Druck lassen sich nun die etablierten Parteien in einzelnen Staaten dazu verleiten im Chor der Nationalisten und Chauvinisten mitzusingen, wie man kürzlich bei den Regionalwahlen in Frankreich beobachten konnte. Wen wundert es dann, wenn immer mehr Bürger das Vertrauen in diese Union verlieren?
Auf Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und seinen Kommissaren ruhen die Hoffnungen vieler, das Ruder umzureißen. Kein leichtes Unterfangen für unseren ehemaligen Premierminister. Vieles wird davon abhängen, ob die Juncker-Kommission – wie ihre Vorgängerin – zum zahnlosen Miezekätzchen verkommt, oder ob sie sich gegen ihre eigene Entmachtung zur Wehr setzt.
Anstatt sich jetzt einer weiteren EU-Erweiterung zu widmen, sollte die Kommission in erster Linie die Vertiefung der Europäischen Union vorantreiben. Das Demokratiedefizit in den Institutionen muss beseitigt werden und die Kommission wieder zur wahren Exekutive erhoben werden. Sie ist die „Hüterin der Verträge“, sie verfügt über das Initiativrecht. Zusammen mit einem gestärkten Europaparlament muss die Kommission das Handeln der EU nach innen und nach außen bestimmen.
Unsere gemeinsamen Werte auf die wir in Europa so stolz waren müssen wieder hochgehalten werden. Dabei darf es keine Kompromisse mit der Rechtsstaatlichkeit geben weder in Ungarn, noch in Polen, noch sonst wo. Ein Europa „à la carte“ ist keine langfristige Lösung, denn Europa darf nicht zum Selbstbedienungsladen verkommen. Dem Egoismus in den Mitgliedsstaaten müssen wir Solidarität entgegensetzen. Am Schengen-Abkommen, das wie kaum ein anderer Vertrag für das Europa der Bürger steht, muss in seinen Grundzügen festgehalten werden.
Die Europäische Union stolpert von einer Krise in die nächste. Doch Krisen dürfen nicht bloß überstanden oder ausgesessen werden, Krisen geben auch Gelegenheit für Veränderungen, für Reformen. Für das neue Jahr sollten wir deshalb das Zitat von Aristoteles beherzigen: „Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel richtig setzen.“